Claudia Luz
Es reicht! Nicht!
Es ist schön, wenn sich 18.000 Menschen von ihren Sofas erheben, um gegen Rechts zu demonstrieren. Wie großartig war es, diese Menschenmenge zu erleben, die ihre Empörung über die Potsdamer Konferenz und die dort geäußerten Deportationsphantasien lautstark zum Ausdruck brachte! Und doch beschlich mich zugleich ein Unbehagen, denn war da nicht auch Heuchelei mit im Spiel? Sind denn AfD und Konsorten plötzlich wie eine Naturkatastrophe über uns hereingebrochen? Oder war es nicht vielmehr so, dass über Jahrzehnte hinweg viele kleine Trampelpfade zusammen eine immer breitere Allee für die Rechtsextremen gebahnt haben? Wir ALLE müssen uns an die eigene Nase fassen: Was ist unser persönlicher Anteil an der Geschichte?
Wir müssen uns leider eingestehen: Wir waren zu lange zu still, zu unpolitisch, zu unengagiert. Entscheidend ist nicht, was die Rechtsextremen tun. Entscheidend ist, was wir alle tun – oder unterlassen. Schon kurz nach der Großdemo war zu beobachten, wie sich zwei Gruppen herausbildeten: diejenigen, die sich weiter engagierten, und die Gruppe der großen, weiterhin schweigenden Mehrheit. Letztere mag das Herz am rechten Fleck haben, aber es reicht nicht, endlich über den eigenen Schatten zu springen und, womöglich zum ersten Mal im Leben, an einer Demo teilzunehmen. An einem Strang zu ziehen ist verdammt schwer – jede Familienmanagerin weiß das nur zu gut. Dafür reicht nicht ein gemeinsamer Feind, sondern es braucht ein gemeinsames Ziel. Die Demokratie zu erhalten, das ist so ein Ziel. Aber hat uns denn diese Demokratie vor dem Aufstieg der Rechten glücklich gemacht? Waren wir alle gleichberechtigt, hatten wir alle die gleichen Chancen, konnten wir alle auf gleiche Weise teilhaben, wurden wir alle akzeptiert und wertgeschätzt? Mitnichten! Wir haben uns jahrzehntelang alle möglichen Formen von Diskriminierungen geleistet. Um nur einige Beispiele zu nennen: zunehmende Kinderarmut / ein Bildungssystem, das Migrantenkinder benachteiligt / eine Polizei, die Menschen anhand äußerlicher Merkmale kontrolliert / ein Wohnungsmarkt, der finanziell Schwächere verdrängt / Städte, die aus selektiven Blickwinkeln gestaltet werden / ein Arbeitsmarkt, der Frauen und insbesondere Mütter diskriminiert / kurzum: kein solidarisches Miteinander!
Wenn ich und mein persönliches Umfeld in den letzten Jahrzehnten sexistisch, rassistisch oder wegen des Alters oder wegen Krankheit diskriminiert wurden – und glauben Sie mir, ich könnte darüber ein ganzes Buch schreiben – dann waren die Verursachenden keine Rechtsextremen, sondern hundsgewöhnliche Angestellte oder Nachbarn oder Bekannte. Bei einer Umfrage waren stolze 45 Prozent der Männer davon überzeugt, dass die Förderung der Gleichstellung inzwischen so weit gegangen sei, dass nun Männer diskriminiert würden. Gleichzeitig ist der Begriff Equal Pay Gap nur wenigen bekannt. Diskriminierung ist strukturell so tief in unserer Gesellschaft verankert, dass sie quasi zu unserer DNA gehört. Diskriminierung ist die kleine Schwester der Deportation. DAS ist die Gefahr für unsere Demokratie – die Rechtsextremen sind nur die Spitze eines Eisbergs aus zutiefst patriarchalen, diskriminierenden Strukturen.
Versuche, diese Strukturen mit Gesetzen wie dem AGG oder dem Entgelttransparenzgesetz zu bekämpfen, sind allzu oft zahnlose Papiertiger statt zähnefletschende Löwenmütter. Es gab halbherzige Offensiven wie das Elterngeld – bei gleichzeitiger Beibehaltung des Ehegattensplittings. Es gab Bildungsreformen, die absolut kontraproduktiv waren, wie das G8. Ich könnte endlos weiter aufzählen. Worauf ich hinaus will, ist: Wir haben unsere Zeit verschwendet. Statt wirkliche Reformen hin zu einer gerechteren Gesellschaft anzugehen, wurde nur der dünne zivilisatorische Lack hier und da ein wenig ausgebessert. Statt genau hinzuschauen, haben wir Femizide als „Ehrenmorde“ verharmlost. Statt rassistische Strukturen zu bekämpfen, haben wir über Böllerverbote diskutiert. Statt dem Klima zuliebe auf Flugreisen in den Urlaub zu verzichten, haben wir an Stränden gebadet, an denen ertrunkene Flüchtlinge angespült wurden. Statt dafür zu sorgen, dass mit den Mullahs im Iran keine Geschäfte mehr gemacht werden, haben wir lieber über das Gendern diskutiert. Wir haben mit alltäglichen Diskriminierungen gelebt, die von Mikroaggressionen bis hin zu tödlichen Anschlägen reichten. Egal, ob sie rassistisch oder sexistisch motiviert waren: Wir haben sie verharmlost.
So sehr man uns nach 1945 einredete, der Faschismus sei besiegt – er war nie weg. Auch die 68er Revolution schaffte es nicht, ihn zu beseitigen. Nicht nur an Schaltstellen der Macht, sondern auch in den Köpfen der Normalsterblichen treibt das braune Gedankengut seither sein Unwesen. Denken wir nur an die Angst vor Fremden oder an Parolen wie „Das Boot ist voll“, an die Gleichsetzung von früher Kinderbetreuung mit Sozialismus oder die Verunglimpfung berufstätiger Mütter als Rabenmütter. In den vergangenen Jahrzehnten wurden Frauen strukturell benachteiligt, Behinderte ausgegrenzt, queere Menschen diffamiert und alle, die nicht dem weißen 1-Meter-90-Normmann entsprachen, diskriminiert. Und auch das ist uns nicht einfach so passiert, sondern wir ALLE haben unseren Anteil daran – wenn nicht durch aktives Diskriminieren, dann durch Schweigen, Desinteresse, Ignorieren, Tolerieren, heimliches Zustimmen, Hände in Unschuld waschen, aktives Wegsehen.
Die meisten, die an der Großdemo teilgenommen haben, sind inzwischen zu ihrem business as usual zurückgekehrt, zu ihrem wohlbehüteten, privilegierten Alltag. Privilegiert zu sein, ist reine Glückssache. Diejenigen, denen dieses Glück nicht vergönnt ist, sehen sich heute mit genau der gleichen Bräsigkeit konfrontiert wie schon vor dem 20. Januar 2024. Es gibt in Heidelberg weiterhin Diskussionsrunden über Rassismus ohne von Rassismus Betroffene, es gibt weiterhin Demos zum Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau mit nicht mal 300 Teilnehmenden, bei One Billion Rising tanzten nur 200 Menschen gegen Gewalt an Frauen an. Die Spaltung in der Gesellschaft nimmt weiter zu und immer mehr Menschen fallen unter den Tisch und dürfen dort die Brosamen aufklauben. Konzerne werden immer reicher, während immer mehr Menschen am Ende des Geldes zu viel Monat übrig haben. Die menschliche Gier kennt keine Gnade bei der Ausbeutung der Natur und sägt weiterhin mit Feuereifer an dem Ast, auf dem wir alle sitzen.
So fühlt es sich also an, am Vorabend einer Katastrophe zu leben, denke ich. Und wissen Sie was? Es ist mir egal, ob diese Katastrophe Putin heißt oder Klimaerwärmung oder Mullahs oder Schlagmichtot: Mir ist klar, dass ich auf die Frage meiner Enkel „was hast du dagegen getan?“ nicht so antworten möchte wie meine Großeltern, nämlich mit Leugnen oder Schweigen. Ich will erhobenen Hauptes antworten können: „Ich habe alles getan, was ich konnte, um mich dagegen zu wehren“. Sorry, aber dafür reicht der Konsum einer Großdemo einfach nicht aus!
Wie immer schließe ich meine Rede mit einem Gedicht, das ich den Kämpfenden im Iran widme, die sich mit unglaublicher Tapferkeit und Mut den krassesten Auswüchsen des Patriarchats widersetzen: Frau Leben Freiheit statt Männer Tod Terror!
Über_Leben dichten
Immer wenn ich eine Zeile herauswürge vergewaltigen sie gerade eine unschuldige Gefangene
Immer wenn ich innehalte, um einen Punkt hinter meine Gedanken zu setzen stirbt irgendwo eine Schwester
Die Mörder können mir nicht egal sein die Getöteten dürfen mir nicht egal sein
denn immer bin ich verbunden
Immer wenn es eine Antwort gibt kommen tausend neue Fragen angekrochen
Immer wenn ich bei Kerzenschein einen Keks genüsslich nasche erlischt irgendwo die Hoffnung
Immer wenn ich einen Umbruch tippe und mir nichts weiter dabei denke wird anderswo ein Kind gefoltert