Evalotta Flöttmann
Wir sind bei der Therapie. Die Demokratie, die Politik und Ich. „Natürlich brauchen wir dich“, die Demokratie legt ihre Hand auf meine Schultern und versucht mich zu beruhigen, „Wir wollen dir alles geben, was du brauchst, um dich frei entfalten zu können, wir wollten schon immer eine Beziehung zu dir.“ Ich werde wütend und protestiere in Richtung Politik: „Du bist nie für mich da und immer mit etwas anderem beschäftigt!“ Die Demokratie wirft der Politik einen vorwurfsvollen Blick zu, als ich frage: „Hörst du mir überhaupt zu? Ich bin deine Zukunft, du solltest mich mitdenken und endlich ernstnehmen. Verdammt nochmal wir haben Angst!“
„Beziehungskrise“, so wird die Bruchstelle zwischen Bürger und Politik, in einer Demokratie-Studie der Robert Bosch Stiftung beschrieben. Die Gründe für diesen Bruch, sind die gleichen, die genannt werden könnten, wenn eine romantische Beziehung, eine Freundschaft, eine Eltern-Kind-Beziehung zerbricht: unerfüllte Bedürfnisse, gegebene Verantwortung, die nicht eingelöst und übernommen wird, fehlende Authentizität und Nähe, kein aufmerksames Zuhören und noch vieles mehr.
Die aktuelle Jugendstudie zeigt, welche Themen Jugendlichen Sorgen bereitet: Inflation, Kriege, teurer und knapper Wohnraum, Spaltung der Gesellschaft, Klimawandel und Altersarmut - Themen unterschiedlicher Lebensbereiche, die alle zukunftsgerichtet sind und sich auswirken, auf die eigene Hoffnung, den Optimismus oder die Lebensfreude. Die Studie weist nach, dass dies ein Grund für den Rechtsruck von jungen Menschen ist. Die Politik hat viel in der Hand, wenn es um ihre Bürger und ihrer Begeisterung, Partizipation Identifikation mit und an der Demokratie geht. Ein Beispiel: Die Angst davor keine bezahlbare Wohnung zu finden begünstigt eine ablehnende Haltung gegenüber Asylbewerbern, aus Angst selbst keine Wohnung zu finden. Es ist eine tiefe mentale Verunsicherung, die dazu führt, sich Parteien oder Gruppierung anzuschließen und zu unterstützen, die unsere Demokratie schwächen. Neben der Frage welche politischen Maßnahmen und Veränderungen es braucht, damit jungen Menschen sich gesehen fühlen und ihnen die Angst genommen werden kann, geht es auch um die Frage, wie wir junge Menschen und Persönlichkeiten stärken können? Oder anders gesagt, wie können wir die mentale Gesundheit von jungen Menschen stärken, angesichts der vielen zukünftigen globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen, denn jeder neunte zwischen 14 und 30 Jahren ist wegen psychischer Störungen in Behandlung. Meine Kritik bezieht sich auf psychische Krankheiten, die gesellschaftlich begünstigt werden und denen durch strukturelle Veränderungen entgegengewirkt werden kann. Studien zeigen, dass vor allem marginalisierte Gruppen häufiger an psychischen Krankheiten erkranken. Genau diese Gruppen gilt es durch gesellschaftliches Bewusstsein und politische Maßnahmen zu stärken und zu schützen, in dem eine Chancengleichheit geschaffen wird. Und diese beginnt bereits im Schulsystem, das verändert und ausgebaut werden muss, sodass sich die Schüler:innen gesehen fühlen und individuell gefördert und gefordert werden können. Die politische Bildung muss weiter in den Vordergrund rücken, aber genauso muss auch für gute pädagogische Beziehungsarbeit gesorgt werden. Es reicht nicht, dass die Schule ein Ort des Lernens ist und auf einen Beruf vorbereitet, sie muss den ganzen Menschen im Blick haben, dass könnte zum Beispiel auch bedeuten, dass es neben Vertrauenslehrer:innen auch Schulpsycholog:innen gibt. Es müssen Orte und Situationen geschaffen werden, in denen Schüler:innen spüren, dass sie gesehen werden und dass es für sehr viele Probleme Lösungen gibt. Entscheidend ist dabei, dass es normal ist, sich Hilfe zu suchen und zu holen, nicht nur wenn man es nicht mehr alleine schafft, sondern auch wenn man es alleine schaffen würde. Diesen Mentalitätswechsel müssen Politik und Gesellschaft anstreben. Ich bin überzeugt davon, dass psychische Gesundheit die Basis einer funktionierenden Demokratie ist, denn zum einen braucht Demokratiegestaltung in Form von Aktivismus und Engagement Arbeit, Kraft, Zeit und Energie. Es braucht Selbstbewusstsein und starke Persönlichkeiten, um es mit Dietrich Bonhoeffers Worten zu sagen, um dem Rad in die Speichen fallen zu können. Darüber hinaus kann viel Unzufriedenheit und Unglück durch erlernte Selbstreflexion und Selbsterkenntnis aufgefangen werden und dadurch ein potenzielles „kollektives-in-Opferrollen-fallen“ verhindern – ein gefährlicher Zustand, in dem keine Verantwortung mehr übernommen wird.
Um nochmal auf die wichtige Rolle von politischer Bildung zu verweisen. Wir müssen zuerst gelernt haben, dass sich ein Input in Form von Engagement auszahlt – nach einem Blick in das Grundgesetz - unserer Verfassung, sollte klar sein warum es sich zu kämpfen lohnt, aber an diese Erkenntnis können wir nur durch Bildung und Beziehungsarbeit herangeführt werden. Wir müssen lernen zu Vertrauen und das kann man erlernen, in Gemeinschaft und Therapie. Denn wir sind nicht nur Rechtssubjekte mit Rechten und Pflichten, sondern auch Individuen, die in einer Gesellschaft leben und die Wünsche, Verletzungen, Wut, Einsamkeit, Angst und Schmerz in sich tragen. Diese Gefühle können entweder durch ein Unglücklich entstanden sein, das dem allgemeinen Lebensrisiko geschuldet ist, oder aber auch durch diskriminierende Strukturen und Systeme, die einen Menschen daran hindern, sein volles Potential zu entfalten oder einen normalen Alltag zu haben.
An dieser Stelle möchte ich die eben genannte Studie, die nachgewiesen hat, das marginalisierte Gruppen häufiger von psychischen Krankheiten betroffen sind und die Tatsache, dass viele unserer gesellschaftlichen Strukturen und Systeme diskriminierend sind, zusammenführen:
Solange Menschen denken, dass sie dieses oder jenes Merkmal, das sie einzigartig macht, verändern müssen, weil der eigene Lebensweg dadurch einfacher wäre und ein Alltag unbeschwerter, solange müssen wir als Gesellschaft Strukturen verändern. Denn in unserer Gesellschaft macht es leider einen Unterschied, welches Geschlecht ich habe, an welchen Gott ich glaube, ob ich eine Behinderung habe, wie hoch oder niedrig mein Einkommen ist, wie alt ich bin, wen ich liebe, wie mein Migrationsstatus aussieht, zu welcher Ethnie ich mich zugehörig fühle, die Liste ist lang. Diskriminierung aufgrund unterschiedlichster, meist mehrerer addierter Faktoren, mindert die Chancengleichheit. Und diese Ungerechtigkeit macht unglücklich und verändert Lebensverläufe. Ich möchte ein Beispiel aus meinem eigenen Leben nennen: Während meines Freiwilligendienstes, den ich frühzeitig abbrechen musste, wurde ich Opfer massiver sexueller Belästigung und strukturellem Missbrauch. Ich habe diese Erfahrungen gemacht und trotzdem war ich noch in einer privilegierteren Situation als andere es sind, denn ich hatte Menschen an meiner Seite, die mir geglaubt haben - ich wurde von einem stark ausgebauten Unterstützungssystem aufgefangen. Die Ungerechtigkeit hat mich zerfressen, denn als Mann wäre mir das nicht passiert. Und ich bin ehrlich, wenn man in eine Ohnmacht und Gleichgültigkeit gerät, wie auch ich sie erlebt habe, dann ist einem alles egal. Die aktuellen Nachrichten, die nächsten Wahlen, Demonstrationen, politische Weiterbildung, die Menschen um einen herum, das Leid anderer. Weil man sich selbst jeden einzelnen Tag aufrichten muss und gegen sich selbst und der eigenen Ungerechtigkeit, die man erfahren hat, ankämpft. Solche Erfahrungen sind nicht nur schreckliche Einzelschicksale, sie werden ermöglicht durch gesellschaftliche, diskriminierende Strukturen und haben eben auch eine Auswirkung darauf, wer unsere Gesellschaft gestaltet. Hätte ich nicht die familiäre, psychologische und juristische Hilfe bekommen, hätte ich mich niemals getraut die Schritte zu gehen, die ich weiter gegangen bin. Wir können es uns nicht leisten starke, ambitionierte, intelligente, talentierte und vor Ideen Sprudelnder Menschen zu verlieren. Zu verlieren an die Angst, an die Menschfurcht, Hoffnungslosigkeit und Depressionen. Wir brauchen jede Stimme im Kampf gegen den Faschismus.