Zehra Tuzkaya

In den letzten Monaten haben wir gesehen, was in Deutschland möglich ist. 

Tausende von Menschen sind auf die Straßen gegangen, um gegen die Afd zu protestieren. 

Auch hier in Heidelberg haben 20.000 Menschen ein Zeichen gesetzt. 

Seit diesem Tag habe ich mich gefragt wie viele Heidelberger*innen am 19.02 gegen das Vergessen und für das Gedenken an Ferhat, Sedat, Said Nesar, Vili Viorel, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Fatih und Gökhan auf die Straßen gehen werden. Seit diesem Tag habe ich mich gefragt wie viele Heidelberger*innen uns - denen, die von Rassismus betroffen sind - zuhören werden. Uns zuhören werden, ohne uns als “migrantische Wütende" abzustempeln. Uns zuhören werden, ohne uns vorzuwerfen, dass wir “zu emotional” seien. Uns zuhören werden, ohne sich davon angegriffen zu fühlen, wenn man davon spricht, dass wir ALLE rassistisch sozialisiert sind. Uns zuhören werden, ohne uns vorzuwerfen, dass wir “übertreiben” würden. Und zuhören werden, auch wenn es unangenehm wird. Seit Tagen, Wochen und Jahren fragen wir uns, wie wir Antirassismusarbeit leisten können, ohne dass es “zu unangenehm” für die weiße Dominanzgesellschaft wird. Denn sobald das “feel good” - Gefühl verfliegt und wir auf Probleme aufmerksam machen, sind wir wieder die Bösen. 

Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass der rassistische Täter den Behörden schon längst bekannt war und er zahlreiche Anzeigen sowie eine Zwangseinweisung in der psychatrischen Klinik hatte und dennoch legal Waffen besessen hat, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass der zutiefst rassistische Vater, der die Angehörigen von Ferhat, Sedat, Said Nesar, Vili Viorel, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Fatih und Gökhan seit 4 Jahren belästigt und immer noch auf freiem Fuß in der Nachbarschaft der Familien lebt,ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass der zutiefst rassistische Vater, regelmäßig mit seinem Schäferhund vor der Haustür der Familie Unvar steht, sie stalkt und Serpil Unvar rassistische Fragen stellt und von ihr fordert, dass sie auswandert, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Der gleiche zutiefst rassistische Vater, der Serpil Unvar immer wieder Briefe schreibt und zuletzt noch vor wenigen Monaten Schadensersatz von ihr gefordert hat. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass die Polizei Serpil Unvar auf all das mit "Warum ziehen sie nicht einfach weg?” antwortet, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass der 22-jährige Vili Viorel den rassistischen Täter aufhalten wollte, vergeblich mehrmals die 110 wählte und ermordet wurde, weil der Notruf unterbesetzt, veraltet und nicht mal richtig angeschlossen war, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass der Notausgang der Arena Bar verschlossen war, weil die Polizei es in den Jahren zuvor angeordnet hat. Die Polizei hat den Notausgang verschlossen gehalten, damit niemand bei Razzien - die auf Racial Profiling basieren - entkommen kann. Laut eines Gutachten, das nicht der Staat, sondern die Familien in Auftrag gegeben haben, hätten 5 von 9 Menschen überleben können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre. Und dennoch hat die Staatsanwaltschaft zuletzt im Oktober 2023 eine neue Ermittlung abgelehnt, obwohl die Angehörigen im Untersuchungsausschuss alle Argumente der Staatsanwaltschaft widerlegt haben. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass Ferhat Unvar beim Eintreffen der Polizei noch am Leben war, aber niemand sich die Mühe gemacht hat nachzuschauen, ob er noch lebt und er alleine, leidend durch die Schüsse in seinem Oberkörper, sterben musste, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass Etris Hashemi, der eine lebensgefährliche Schussverletzung am Hals hatte, mehrfach nach seinem Ausweis gefragt wurde, während er auf Erstversorgung seiner Verletzungen warten musste und dann, als der Verdacht bestand, dass der Täter wieder zurück ist, von Rettungskräften und Polizei als lebendes Schutzschild benutzt wurde, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch erzählen kann, dass 13 von 19 SEK-Beamten in der Hanauer Tatnacht, Teil von rechtsextremen Chatgruppen waren, ohne dass es euch zu unangenehm wird. Ich frage mich, wie ich euch all das erzählen kann, ohne dass ihr uns den Rücken zukehrt, weil es euch zu unangenehm wird. 

Ich frage mich, ob ihr verstanden habt, dass es beim Kampf gegen Rassismus nicht um euer Gefühl der "Unannehmlichkeit" geht, sondern um das Wohlbefinden von Menschen, die tagtäglich Rassismus erleben. Ich frage mich, ob ihr verstanden habt, was es heißt, in diesem Land als rassifizierte und migrantisierte Person vor die eigene Haustür zu gehen und sich nicht sicher zu fühlen. Sich nie sicher zu fühlen. Sich nie zugehörig zu fühlen. Sich immer für alles rechtfertigen zu müssen. Sich nicht nur seit der Correctiv-Enthüllung, sondern schon lange zuvor zu fragen, wohin man auswandert, wenn hier wieder der Faschismus an der Macht ist. Sich nie sicher zu sein, wenn man anrufen soll, wenn etwas passiert, weil die Polizei durchzogen ist von rechten Strukturen. Ich frage mich, ob ihr verstanden habt, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist. 

Ich frage mich, ob ihr verstanden habt, dass strukturelle Probleme auch strukturelle Lösungen benötigen. Ich frage mich, ob ihr verstanden habt, dass “nie wieder ist jetzt” mehr ist, als einmal auf die Straßen zu gehen und sich dafür gut zu fühlen. Ich frage mich, ob ihr verstanden habt, dass “nie wieder ist jetzt” konkrete Maßnahmen benötigt. Ich frage mich, ob ihr versteht, was es heißt, euren Freund*innen beim Weinen zuzusehen, weil sie wieder einmal Rassismus erlebt haben. Ich frage mich, ob euer “nie wieder” auch wirklich allen gilt. Ich frage mich, ob ihr versteht, dass es nicht um Schuld, sondern um Verantwortung geht. Ich frage mich, ob ihr versteht, was es heißt, jedes Jahr Gedenkstätten aufzubauen, die jedes Jahr aufs Neue zerstört werden. Ich frage mich, ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr versteht, dass es auch Rassismus in Heidelberg gibt. Ich frage mich, ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr unsere Namen richtig aussprecht. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr uns nicht mehr zu “den Anderen” macht. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr uns unser Deutschsein nicht aberkennt. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr uns nicht mehr entmenschlicht. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr euch mit Rassismus wirklich auseinandersetzt. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr euch mit der Kolonialgeschichte dieses Landes und dieser Stadt auseinandersetzt. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr euer Wahlrecht und eure Stimmen für strukturelle Veränderungen nutzt. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr unsere Verbündeten werdet. Ob wir erst ermordet werden müssen, damit ihr versteht, dass wir all unsere antirassistische Arbeit nicht aus Langeweile oder Spaß machen, sondern aus Notwendigkeit.Wir sind unfreiwillig aktiv, weil ihr freiwillig passiv seid. Ich frage mich, was wir euch noch erzählen können. 

Ich kann euch noch von den unzähligen Fehlverhalten, Respektlosigkeiten und dem anhaltendem Rassismus des deutschen Staates und der Polizei gegenüber der Überlebenden und Familien von Ferhat, Sedat, Said Nesar, Vili Viorel, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Fatih und Gökhan erzählen. Aber dafür bräuchte es den ganzen Tag. Ich kann euch nichts erzählen, was neu wäre. 

Ich kann euch nichts erzählen, was nicht schon gesagt worden ist. Ich kann euch nichts erzählen, was nicht mit einem Klick im Internet zu finden wäre. Ich kann euch nichts erzählen, wenn ihr uns nicht zuhört. 

Was uns bleibt, ist Widerstand. 

Was uns bleibt sind Emis Gürbüz Worte, Mutter des Ermordeten Sedat Gürbüz: "Deutschland - hör zu: Ich bin Stark! Wir sind stark und wir werden immer mehr! 

Du hast einen Sedat ermordet, aber tausende Sedats wurden geboren.” 

Was uns bleibt sind Cetin Gültekin Worte, Bruder des Ermordeten Gökhan Gültekin: 

“Ja wir, Angehörigen in Hanau sind Betroffene eines grausamen rechts-terroristischen Anschlags. Aber wir sind keine hilflosen Opfer. Wir haben unsere Stimmen erhoben und sind laut. Say their Names: Die Namen unserer ermordeten Kinder und Geschwister sind zu starken Symbolen für den Kampf gegen Rassismus geworden. Wir machen weiter.” 

Was uns bleibt sind Serpil Unvars Worte, Mutter des Ermordeten Ferhat Unvar: 

“Der Widerstand lebt in uns allen!” 

An die Ermordeten zu erinnern heißt, für die Lebenden zu kämpfen. 

Erinnern heißt kämpfen. Erinnern heißt verändern. 

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Niklas Werner Becker

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Philipp Hill