Niklas Werner Becker
Wo ist er denn?
Kästner sagte einst, "man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird." In anderen Worten: Ich habs eilig. Ich möchte die nächsten Minuten über eines der derzeit brennendsten Themen reden: Über den Linksextremismus. Keine müde Pointe, sondern mein voller Ernst. Wo ist er denn, der Linksextremismus? Seitdem ich denken kann, werde ich vor ihm gewarnt, schließlich trugen die Linken ja die Schuld an beiden Weltkriegen sowie am Holocaust. Vogelschiss bei Seite, wir haben Inflation, eine Krise jagt die nächste, das Endstadium des Kapitalismus zeichnet sich am Horizont ab, und die Linken überlassen unseren geliebten Rechtspopulisten und Springerstiefelleckern vom Dienst die Show. Das Gute hat sein Pathos verloren. In Deutschland herrscht endlich mal wieder gute Stimmung, man könnte glatt meinen, wir hätten es 5-vor-Reichstagsbrand, dabei haben wir es 10-nach-Klimakatastrophe – stellt euch vor, es ist Krieg, und keiner geht hin; stellt euch vor, es ist Weltuntergang, und keinen interessierts. Jahrzehnte des gesitteten Diskurses über die Unausweichlichkeit gesellschaftlicher Veränderung zur Rettung des Klimas und unzählige Klimagipfel mit globalen Verträgen liegen hinter uns – Fazit: Ein Mann, ein Wort. Viele Männer, keine Verantwortung. Ein alter Schulfreund macht sich Sorgen, seine Kinder würden von LGBTQ Menschen vorgelesen bekommen. Also wählt er eine Partei, die nicht einmal über die Präambel ihres Europawahlprogramms hinauskommt, ohne den Klimawandel zu leugnen. Das ist systematisch, denn "Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD". Klimaflüchtlinge, die die AfD mit der Leugnung des Klimawandels forciert, sichern ihnen die Stimmen der Zukunft. Da hat wohl jemand aufmerksam Machiavellis Fürsten gelesen. All das kann man im offiziellen Wahlprogramm finden - wenn man es denn lesen würde. Ob Menschen aus inhaltlicher Überzeugung oder aus Desinteresse an Inhalten die AfD wählen, so oder so, wir haben ein riesengroßes Problem. Da wählt man einmal 60 Jahre lang neoliberale Parteien - und was bekommt man? Die Konsequenzen von 60 Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik. Und wer ists Schuld? Um den großen Philosophen Horst Seehofer zu zitieren: "Die Grüüühnen!" Die Krisen von heute wurden gestern, gekauft wie gesehen, an den Wahlurnen der Bundesrepublik heraufbeschworen. Schuld sind jetzt die Flüchtlinge, die gewaltsamen Einwanderer ins deutsche Sozialsystem, die dreisterweise ihr Meistertiteldiplom im zerbombten Haus vergaßen. „Wir riefen Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel!“; da gibt man sich wirklich alle Mühe, ganze Kontinente in Schutt und Asche zu legen, und muss dann zu allem Übel auch noch händisch auf deutschen Ämtern die Spreu vom Weizen, die Fachkraft vom Wirtschaftsflüchtling trennen. Was ein Zufall aber auch, dass nie die Fachkräfte dem Stereotyp des kriminellen Ausländers entsprechen. Wer Wirtschaftsleistung bringt, der kann gar nicht kriminell sein – fragt ruhig mal nach bei VW, Amazon und co. Nennen wir es mal beim Namen: Wenn ein Rechtsextremist wie Merz gegen Flüchtlinge hetzt, dann nicht aufgrund moralischer Bedenken; wer die innereheliche Vergewaltigung nicht für eine Straftat hält und trotzdem öffentlich das Frauenbild der Geflüchteten anprangert, ohne dabei rot zu werden, der ist förmlich für den Parteivorsitz der CDU geboren worden. Auch um Kriminalität geht es nicht. Die Suche nach dem Kriminalitätsgen blieb erfolglos, doch der Zusammenhang von Armut und Kriminalität hingegen ist bestens belegt. Und wer ist systematisch bedingt viel stärker von Armut betroffen? Migranten. Statt also der Kriminalität vorzubeugen, indem man etwas gegen die Armut unternimmt, werden die immer gleichen Vorurteile reproduziert. Wenn Flüchtlinge kriminell sind, dann weil wir sie zu Kriminellen machen. Wenn sie arm sind, dann weil wir sie arm machen. Wenn sie ungebildet sind, dann weil wir sie ungebildet gemacht haben. Die Deutschen sind Diebe, die lauthals nach der Polizei rufen, sobald ihnen ihr Diebesgut genommen wird. In diesem Land tritt man traditionell gerne nach unten und zu unserem Glück liegt auch immer wer am Boden; die Ausgaben für Bürgergeld und Asylsystem belaufen sich auf rund 60 Milliarden; man könnte also immer noch 40 Milliarden mehr in diese Unterstützungen investieren, wenn man nicht einmal die Steuern für Reiche erhöhen, sondern lediglich die jetzigen gewissenhaft eintreiben würde. 100 Milliarden werden jährlich hinterzogen und wir werden bei Laune gehalten mit Erzählungen der Sozialschmarotzer und Bürgergeld-Erschleicher. Wir haben kein Sozialschmarotzer-, sondern ein Sozialproblem. Die einen werden im Dreck, die anderen im Bernsteinzimmer geboren, und das schimpft sich dann Gerechtigkeit. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg; selbst ist der Mann; wir haben alle dieselben 24 Stunden; und welche Phrasen man seinem Gewissen zur Beruhigung sonst noch so verabreicht. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen will, wenn Lindner sich mal wieder bei Lobbyisten und Rechtspopulisten anbiedert. FDP; eine Partei, die jeden Tag dem Gott, an den sie nicht glaubt, dafür dankt, dass die Alliierten bei der Befreiung von Ausschwitz das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ haben stehen lassen. Der Wert eines Menschen bestimmt sich weiterhin durch seine Arbeit, bzw. seine Leistung im Sinne der Wirtschaft. Berufe werden quantitativ, nicht qualitativ bemessen. Eine Altenpflegerin, ein Erzieher, eine Lehrerin, ein Krankenpfleger; unbezahlbar für die Gesellschaft. Eben drum werden sie nicht bezahlt. Zu dieser Glorifizierung der Arbeit passt unser Umgang mit Kindern, Kranken und Alten, denn, wie der Ex-SPD-Politiker Müntefering schon sagte, "Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht essen." Das Motto deutscher Sozialpolitik lautet: Zum finanziell geringen, humanitär großen Preis. Links ist seit Jahrhunderten das auserkorene Feindbild und milliardenschwere Unternehmen und Medienhäuser schaffen es auch noch, bei den Rechten ein Gefühl von Auflehnung, von Widerstand gegen „Die da oben!“ hervorzurufen, wenn sie das Tempolimit als Schöpfung der linksgrünen Ökodiktatur ablehnen. Diktatur ist, wenn man die gemeinsame Lebensgrundlage nicht zerstören darf. Ohne uns Linke hätten wir gar nichts, unsere Gegner würden noch um Gnade winselnd vorm Sonnengott auf die Knie fallen oder nach einer 14-Stunden-Schicht vom ungesicherten Baugerüst stürzen, wenn wir uns nicht seit jeher für eine gerechtere Welt eingesetzt hätten. Und was ist der Dank? Wie damals steigt der Fremdenhass proportional zur Inflation. Völkermorde sind schon was Schlimmes, aber natürlich nichts gegen Döner für 8€. Was halt so im Unterton eines jeden besorgten Bürgers mitschwingt. „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben.“, so das Motto unzähliger Generationen vor uns. Jetzt stehen wir am Abgrund und kriegen von überall zu hören, es ginge uns noch immer zu gut; wir verwöhnten Blagen ohne Zukunft, ohne bewohnbaren Planeten, die das vierte Reich und den physischen, von Heckler & Koch gesponserten Grenzschutz noch vor der Erreichung des ersten Klimaziels werden durchgemacht haben. Seitdem ich ein kleines Kind war, wollte ich die Welt verändern, sie verbessern. Und nun stehe ich hier; kein Abschluss, keine Arbeit, keine Familie im Reihenhaus, keine Liebe des Lebens, mit der ich alt werde, keine Kinder, die ich heranreifen sehen werde. Mein Leben ist vorbei, bevor es angefangen hat. Jeder Tag ist unter Vorbehalt. Ich würde mich ja über die gute Note zu meinem Traumstudium freuen, wenn wir nicht morgen alle tot wären. Die Zukunft, auf die wir zusteuern, wird uns unverbesserlichen Weltverbesserern eine Entscheidung abverlangen: Sterben wir für unsere Ideale oder sterben sie für uns? Seit Monaten zerbreche ich an dieser Frage, mit der sich niemand in unserem Alter befassen müssen sollte. Darüber darf man die Absurdität nicht vergessen, dass wir, trotz allem bisher Gesagten, die Gewinner sind. Wir sind die Sieger. Von uns wurde die Geschichte geschrieben. Doch sehen so Sieger aus? Ich will es nicht hoffen. Wenn die menschliche Natur eines historisch unter Beweis gestellt hat, dann, dass sie unglaublich resistent ist. Doch der technologische Wandel, die Globalisierung, die Verbrechen und Gewissen so entkoppelt hat, hat die Schranken der biologischen Anpassungsfähigkeit längst überwunden. Der Mensch hat mal wieder ein Instrument geschaffen, das er selbst nicht zu spielen vermag. Aufs Neue rüstet sich seine Schöpfung zum Vatermord. Unsere Art zu leben macht krank. Und sie tötet. Uns noch nicht, doch der Tag wird kommen. Und ich frage euch noch einmal: Wo ist er denn, der Linksextremismus?