Boom Boom Boomer

Versuch in 8 Kapiteln über das runzlige Viertel

Ein Essay von Andrea Willig

1.     Ein Viertel der Deutschen ist in Rente, circa 21 von 83 Mio.
2.     Nimmt man das Renteneintrittsalter von 66 Jahren als drei Viertel, bleiben 22 Jahre: das runzlige Viertel.

Knopp der hat hienieden nun
Eigentlich nichts mehr zu tun.
Er hat seinen Zweck erfüllt. –
Runzlich wird sein Lebensbild.

Wilhelm Busch, Julchen

Irrelevant?
Die Baby-Boomer, ein unpopuläres Thema

Es ist doch so, dass allein das Wort Rentner ein pelziges Gefühl auf der Zunge verursacht. So viel Farblosigkeit steckt darin, dass man ganz taub wird im Hirn. Wen interessieren Leute mit wenig Sex und vielen Wehwehchen? Diese Lebensphase der Lauwärme, der Zahnbrücken und Gesundheitsschuhe. Wer jeden Funken Aufmerksamkeit mit einem Wort abtöten will, sagt einfach Rentner, gerne auch Rentnerin.

Egal welcher Typus, ob schlurfende Gruppen in beigen Funktionsjacken, geliftete Glattgesichter auf morschen Körperteilen oder sportive Altersbekämpfer im Nikeshirt, eines haben alle gemeinsam: keinen Job und keine Ziele außer privaten.

Nur Politiker, Ärzte und die Pharmaindustrie brauchen sie noch, als Stimmvieh und als Kunden. Also nicht den Rentnermenschen an sich, sondern, was man noch aus ihr/ihm herausholen kann. Natürlich gibt es auch sie, diese eine außergewöhnliche Boomer-Lady, verschrumpelt zwar, trotzdem souverän und unverblümt kritisch. Zu ihr aber später.

Money for nothing (and chicks for free)
Endlich Rente, und dann?

Kein Wecker klingelt, kein Chef macht sich wichtig, kein Stress reibt auf. Wer monatlich Geld aufs Konto bekommt, ohne zu arbeiten, kann aufblühen wie die Narzisse im Mai. Ohne Anstrengung, Schlafmangel, Ärger. Endlich in Ruhe gelassen, ohne Tretmühle und das mulmige Sonntagabend-Gefühl. Mit dem Beginn der Rente erholen sich Nerven und Herz von der Hektik (oder der Eintönigkeit), Rücken und Füße vom ewigen Sitzen (oder auch Stehen, je nachdem).

Tschüss nine-to-five und Rushhour, tschüss Kantine, Urlaubskarte und Homeoffice-Ecke. Endlich verfügen sie frei über ihre Zeit, können tun und lassen, wonach ihnen ist.

Haben sie davon nicht schon in der Schule geträumt? Nicht alle, doch viele haben geschuftet, gespart, vielleicht Lotto gespielt, um diesen Zustand schnellstmöglich herbeizuführen. Und nicht nur der tägliche Broterwerb, auch die großen Probleme und Dramen scheinen inzwischen gemeistert. Oft auch nur ausgesessen, na und, wen interessiert´s? Aus dem Modus der Vorbereitung der Freiheit in den Modus der Freiheit gekommen! Endlich aus nichts anderem leben als aus dem inneren Leuchten.

Aber sind es nicht erst ein Ziel, eine Mission, eine heilige Pflicht, die das Leben lebendig machen? Ein innerer Zwang, ein düsterer Drang, ein Abgrund, eine Bedrohung? Geht es im Grunde nicht immer darum, Widerstände zu überwinden, Gegner zu bezwingen, Unglück abzuwenden, Glück zu erobern? Macht nicht das und nur das alles aus? Ist nicht sogar eine passive Heldin nur dann eine, wenn sie gegen die Macht der Verhältnisse passiv besteht, eine andere wird oder untergeht?

Die meisten der vorgerückten Generation sind denn auch  stetig bemüht, aktiv zu sein, sportlich, informiert, engagiert, im regen Austausch mit anderen.

Aber was ist es genau, das noch herauskommen muss? Was man nie gesagt oder getan hat, weil in den ausgefüllten Jahren keine Zeit dafür war, weil es nicht sein durfte, weil man nicht wusste  wie? Oder weil nicht einmal klar war, dass da etwas ist, das heraus will ? Was ist es, das keinen Aufschub mehr duldet, das in die Welt muss, um der verbleibenden Lebenszeit Substanz zu verleihen, um zwischen sich und den Tod mehr als das Altern zu setzen? Freiheit wozu, nicht wovon. Womit sich verankern, um heiter den Anker zu lichten und nackt ins Unbekannte zu segeln?

Ist es möglicherweise nichts anderes als das Arbeiten an seiner Menschlichkeit?

 

Ich selbst wollte schreiben, am liebsten immer nur schreiben. In den schmalen Räumen zwischen familiären und beruflichen Pflichten träumte ich mich voraus in die Zeit als full-time Autorin. Wer einmal geschrieben hat, braucht es wie Süchtige die Droge. Nicht schreiben können, warum auch immer, ist kalter Entzug. Schreiben, um das brodelnde Ungesagte aus dem Inneren herauszulösen, das Unsagbare zu sagen. Und jetzt? Dieses impertinente Thema, das Alter. Melancholisch könnte ich werden wie Hofmannsthals Marschallin:

 

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie:
sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.
Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder.
Lautlos, wie eine Sanduhr…                                       

Der Rosenkavalier
 

Und wenn ich dann unmotiviert bin, lustlos, phlegmatisch, befällt mich sogleich eine stille Panik. Das böse Gefühl, wenn ich jetzt nachgebe, tatenlos liegenbleibe, dann bringe ich nie wieder den Willen auf, mich zusammenzureißen, loszulegen und weiterzumachen. Nie mehr kommt der Schwung für das Leben zurück, für das, was sein muss, erst recht nicht für Kreatives. Schwere und Schwermut werden mich ausfüllen bis zum Rand, womöglich fange ich das Trinken an, vergammle, versumpfe für immer, ich wäre nicht die Erste.

Vor dieser Bedrohung fliehe ich dann in wilde Aktivität, putze und räume herum, sortiere Papiere, trotze dem Weichlichen, Schwachen, beweise, dass ich noch immer und immer wieder aufstehen und siegen kann. Hinterher bin ich froh, die Krise erfolgreich bekämpft und gerade das Unangenehme erledigt zu haben.

Wenn ich jedoch, was selten geschieht, widerstehe, schwach bleibe, faulenze, träume, die Zeit vertropfen lasse, als hätte ich noch endlos viel davon, eine Stunde, zwei oder gar Tage, dann kommt mir das Liegen, Lesen und Essen, das

Aus-dem-Fenster schauen und Träumen mit einem Mal sinn- und bedeutungsvoll vor. 

Sich erinnern, dass das Eigentliche in allem die Poesie ist, die nicht benannt werden kann, nicht gelernt und nicht hergestellt werden muss.

Science Fiction
Die Boomer als Zwitterwesen

Jetzt sind also die Baby-Boomer dran, in Rente zu gehen, abzudanken, die Wirtschaftswunder-Kinder, Autoritäten-Stürmer, die Friedensbewegten, Wohlstands-Verwöhnten, die Ignoranten der Erderhitzung. Die neben all dem auch eines sind: Zwitterwesen aus ungleichen Welten.

Geboren in eine Welt, die sie, wie jede Generation die ihre, als Normalität ansahen, und plötzlich im Erwachsenenalter mitten in Science Fiction.

Wer als Kind, aus welcher Gesellschaftsschicht auch immer, jeden Nachmittag stundenlang unbeaufsichtigt, ohne Eltern, Betreuer oder Lehrer, nach Lust und Laune frei durch Quartiere, Gärten, Höfe, womöglich auch Trümmergrundstücke streunte, an geheimen, verbotenen Orten mit Freund*innen herumhockte und phantasierte, Ball und Hickeln und Gummitwist spielte, ein Messer oder sogar eine Steinschleuder besaß, wer Briefmarken sammelte, Würmer, Käfer und Molche in Schuhkartons und Weckgläsern hielt, wer den Diercke Weltatlas zur Schule schleppte und später im Auto mit Straßenkarten hantierte, wer Briefe geschrieben, kuvertiert, frankiert und zum Briefkasten getragen hat, wer auf Reisen Münzen gesammelt und an der Telefonzelle Schlange gestanden hat, wer zwischen genau zwei (in Ziffern 2) TV Sendern wählen konnte, und jeden Vertrag und Schriftverkehr in Papierform aufbewahrt hat, wer Fotografien auf mengenbegrenzte Filmrollen aufgenommen und zu Entwicklung und Druck in ein Labor gebracht, wer freitags und nur freitags gebadet hat, wer Musik von Tonträgern (Schallplatte, Band, CD) gehört hat, wer Faktenwissen in dicken, alphabetisch geordneten Bänden des Brockhaus, Meyer oder Duden nachschlagen musste…

Wer also sein halbes Leben in der Bronzezeit zugebracht hat, hätte sich niemals vorstellen können, dass noch zur eigenen Lebenszeit ein Kästchen erfunden würde, mit Tasten und Bildschirm, ein Ding so groß wie ein Skatspiel, mit dem man weltweit telefonieren und das Gegenüber dabei sogar sehen kann, mit dem man in Netzwerken mit Millionen anderen Menschen unbegrenzt Texte, Bilder und Musik austauschen, mit dem man natürlich auch selbst  Musikhören, Fernsehen und Filme anschauen kann, dazu fotografieren und navigieren, Spiele spielen, alleine und mit anderen, ein Ding, das als Taschenrechner, Kalender, Spiegel, Kompass und Lampe verwendet werden kann, als Uhr, Wecker und Alarmanlage, als Kilometerzähler, Babyphone und Abhöranlage, als  Blutdruckmesser und Übersetzungsautomat, zur Bewegungsüberwachung, für Bankgeschäfte, Wetter- und Straßenzustandsberichte, als Enzyklopädie, Gehirntrainer und Impfpass, als Bildbearbeitungsinstrument, Warenkatalog, Werbe-, Ein- und Verkaufsplattform, als Konferenzraum, Tausch- und Partnerbörse…

Ein kleines Kästchen, das hunderte Anwendungsmöglichkeiten bietet, die stetig erweitert und verbessert werden und allesamt  zu einem überschaubaren Monatsbetrag zu haben sind: 

Total Science Fiction, was sonst?

Da das Ganze so ungeheuer praktisch ist, zahllose Geräte, Umstände und Wege erspart, so viele Grenzen überschreitet, besitzen und benutzen mit einem Mal rund um den Globus Milliarden Menschen das Kästchen, eilen atemlos von Anwendung zu Anwendung und merkten nicht einmal, wie Science Fiction es ist.

Die Boomer tun wahrscheinlich nur so, als wäre es das Normalste der Welt,  lassen sich von den Jüngeren zeigen, wie was funktioniert, und machen auf cool, typisch Boomer.

Und wenn sie am Anfang in ihrer Einfalt noch dachten, das Ding wäre ausschließlich etwas für Technik-Fanatiker, begriffen sie bald, dass es nicht so war, dass man nicht mehr die Wahl hat, dabei zu sein oder nicht, dass es dazu gehört zum Leben als Mensch und Bürger. Wer kein Kästchen hat, ist draußen, trotz aller Bedenken und Kritik.  

Und die gibt es natürlich. Weil nämlich alles, was man mit dem Kästchen tut, was man anschaut, kauft, fragt, zeigt und kommuniziert, nicht mehr privat ist, wie früher, sondern öffentlich, also auch anderen, fremden Personen, Interessensgruppen und unter Umständen auch dem Staat zugänglich ist. Dass folglich die sogenannte Privatsphäre schrumpft, der Bereich, in dem ein Mensch unbehelligt von äußeren Einflüssen sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnimmt. Ein verbrieftes Menschenrecht und ein Kennzeichen moderner Demokratien.

Jeder weiß das, und doch…

Eins, zwei drei im Sauseschritt
läuft die Zeit, wir laufen mit.                                            

Wilhelm Busch

Und die Boomer laufen dabei wie erwähnt als Transition-Generation, als analog-digitale Zwitterwesen. Die letzten der Sorte, die – siehe oben - noch wild analog zurechtkommen musste, die das Private, das Nur-unter-uns kannte und schätzte, weil ihre Eltern Bespitzelung und Diktatur noch am eigenen Leib erlebt hatten.

In dreißig Jahren werden die Boomer ausgestorben sein, niemand wird sich mehr vorstellen können, wie man ohne das Kästchen lebt. Oder ohne entsprechende Brille, Uhr oder was immer noch kommt, um Virtuelles, also Illusion, als Realität zu erleben. Der digitale Mensch wird der Standard sein.

Glücklicherweise werden die Boomer bis dahin aber noch eine andere tiefgreifende Wende erleben.

Das Ganze nimmt 2024 Fahrt auf mit Robert Habecks Klimaschutzverträgen zwischen dem Bund und der Industrie: Der Staat übernimmt 15 Jahre lang die Mehrkosten für eine klimafreundliche Produktion. Rasch stellen die wichtigen Unternehmen, Stahl, Glas, Zement und Chemie, auf grüne Fertigung um. Generell knüpft der Staat Zuschüsse an die Bedingung, Emissionen zu reduzieren, so wie in Frankreich bereits bei Air France und Renault geschehen. Mit Hochdruck werden allein in Deutschland 15.000 Windräder gebaut, Millionen Gebäude mit Solarpaneelen und -ziegeln ausgestattet.

Im 3D-Druck-Verfahren werden vor allem Kunststoffabfälle zur lokalen Fertigung neuer Güter und Reparaturteile genutzt. Produzenten verpflichten sich, mit dem Verkauf eines Produktes Instandhaltung, Reparatur, Rücknahme und Wiederverwendung als Ganzes oder in Teilen zu übernehmen.

Je weiter dieser Prozess fortschreitet, desto profitabler wird das grüne Wirtschaften. Einher damit geht ein Umdenken. An die Stelle des blinden, immerwährenden Wachstums treten der Mensch und die Natur in den Fokus der Wirtschaft.

Gesellschaftliche Interessen werden über die der Aktionäre gestellt. Innovation ersetzt Fortschritt. Die Dynamik nimmt weiter zu. Auch im Privaten kommt es zu einem Aufschwung in Sachen Umwelt- und Artenschutz. So wetteifert man zum Beispiel darum, in Gärten, auf Balkonen und Dächern neue Lebensräume für immer mehr Insekten und Vogelarten zu schaffen. Öko- und Natur-Tourismus entwickeln sich zur vorherrschenden Reiseform. Ausgiebig wird zu all dem gepostet, insgesamt lässt die absorbierende Wirkung der sozialen Medien aber nach.

Grüner Wasserstoff wird zur tragenden Säule der Energiewirtschaft. Neue Berufe entstehen. Für Klimaflüchtlinge werden Schulungsprogramme aufgelegt zur Einführung in die umweltfreundlichen Arbeitsgebiete. Eine Frauen-/Genderquote von 50 Prozent in Politik und Wirtschaft ist in wenigen Jahren obsolet, da sich gemischte Teams ökologisch und ökonomisch als  effizienter erweisen als vorwiegend männliche.

Unter großen gemeinsamen Anstrengungen gelingt, was die Staatengemeinschaft im Dezember 2022 in Montreal beschlossen hat: 30 Prozent der Erd- und Meeresfläche werden unter Naturschutz gestellt. Dabei unterstützen Staaten mit wenig schützenswerter Fläche die artenreichen Entwicklungs- und Schwellenländer bei der Erweiterung und Bewahrung der Schutzgebiete. Der Finanzaufwand für die Maßnahmen ist enorm, doch es bestätigt sich eine Studie der Universität Cambridge: Beim wirksamen Schutz von 30 Prozent der Land- und Meeresflächen übersteigt der Nutzen die Kosten tatsächlich um den Faktor 5 zu 1. Dabei werden die finanziellen Folgen für die globale Wirtschaft berücksichtigt, aber auch die Beiträge der Natur, etwa als Speicher klimaschädlicher Treibhausgase oder als Schutz gegen Überschwemmungen.

Science Fiction? Utopie?

Wenn die Boomer sterben, ist die Welt ein anderer Ort, noch immer krisengeschüttelt, noch immer zutiefst ungerecht. Noch immer erliegen ganze Völker der bizarren Faszination von Autokraten und verlieren für längere Zeit ihre Freiheit. Dummheit und Egoismus bestehen fort. Trotzdem verorten die meisten Menschen (Tiere und Pflanzen) ihr Paradies nicht in künstlich geschaffenen Räumen unter dem Meer, auf dem Mars oder im Metaversum, sondern hier auf der Erde.

Live is life
Aufbruch und Reise der Boomer

Am anderen Ende der runzligen Viertels die unsterbliche Jugend.  

Als die Boomer ihren Selbstwert daraus zogen, wie stark sie gegen den Strom schwammen. Als sie in wütenden Massen mit Transparenten überall, auch in Heidelberg, gegen den Schildwall der Ordnungshüter anrannten. Als alle sie am Arsch lecken konnten, die klugscheißenden Lehrer, die korrupten Wirtschaftsbosse und Politiker in ihren Anzügen, Kragen und Krawatten, mit ihren wohlformulierten Problemen und Überzeugungen. Die erwachsenen Normalos mit ihrer platten Vernunft, die Autowäscher, Partyverächter und Drogengegner. Die die Lust und die Ektase, die Wut, Verzweiflung und Angst einfach vergessen oder ausgemerzt hatten.  

Natürlich gerieten die Boomer bald in die Anpassungsmühlen. Statt ihre Konturen zu schärfen, zu stärken, was in ihnen angelegt war an Talent und an Widersprüchen, statt den Schmerz des Andersseins umzuwandeln in die Lust am Eigensinn, mussten/wollten sie sich am Bestehenden orientierten, sich hineinverwandeln in alltagstaugliche Jedefrauen und Jedermänner.

Die Wenigen aber, die der Hunger nach Intensität auch später einfach nicht losließ, tanzten und trommelten sich in Trance, kraxelten die 6000er Berge hinauf bis das Hirn ihnen schwoll, soffen bis zur Verblödung, vögelten wie die Karnickel, gaben sich fremden Gurus hin, verzockten ganze Vermögen, arbeiteten bis zum Burnout und was es sonst noch so gibt an Extremen, um sich zu lebendig zu fühlen.    

Doch wie durchschnittlich oder exzentrisch einzelne Leben erscheinen mögen, alle, die heute noch mitmischen, sind zu Surfern geworden, mit mehr oder weniger wackligem Gleichgewicht zwischen dem Ich und der Welt, Experten im ewigen Surfen, Fallen, Aufstehen und Weitersurfen.


Ich persönlich war immer heimlich erstaunt über die Menschen, wie sie waren, was sie taten und unterließen. Auch über mich selbst.


Erinnerung und Weisheit
Eine Boomer-Lady klärt auf

An einem klaren Oktobertag war ich Gast in der Villa am Berg und wurde Zeugin dieses Gesprächs zwischen Großmutter und Enkel:

-  Was erinnern wir schon? Was wissen wir über uns, unser Leben? Welche Kenntnis haben wir von dem, was wir vor einem, vor 10 oder vor 30 Jahren getan, was wir gedacht, gefühlt, gewollt haben, am 12. Februar 2023, im Sommer 2004 oder im Jahr 1973? Alles im Nebel. Und das nicht etwa, weil es hier oben nicht mehr ordentlich funzt.

Sie tippte sich an die Stirn und sah ihrem fläzenden Enkel Linus direkt in die Augen.

-  Wir sind uns ja kaum des gegenwärtigen Momentes bewusst, er vergeht genauso emsig bewusstlos wie die Millionen vergangener Momente, nicht wahr? Was wir haben, was sich uns eingebrannt hat, sind ein paar Eckdaten,  Höhe- und Tiefpunkte, die zu Erzählungen, Anekdoten gerinnen. Wir reihen sie aneinander und schustern daraus eine Biografie, eine Identität. Je nach Temperament, Charakter und Philosophie eine Opfer- oder Täterrolle, ein Drama, eine Komödie, einen Schelmen- oder Schauerroman, meist eine Mischform davon, Hauptsache wir kommen gut dabei weg und -

-  Du kommst bestimmt gut dabei weg, frotzelte Linus und grinste. Doch sie ließ sich nicht rausbringen.

-  Es ist nachgewiesen, in wissenschaftlichen Studien, dass man durch suggestive Fragen Erinnerungen sozusagen aus dem Nichts herauf beschwören kann.

Sie beugte sich über den Tisch und schob die Maria-Weiß-Platte mit den Schokohütchen und Zitronen-Eclairs ein Stück in Richtung ihres Enkels,

-  Das sind dann Erinnerungen an Szenen, die die Befragten nie erlebt, die sich vielleicht gar nicht ereignet haben. Und selbst wenn es um tatsächlich erlebte Szenen geht, dann ist es nicht so, dass sie eins zu eins im Gedächtnis verwahrt werden, gleich bleiben, und sich abspulen lassen wie ein Film. Nein, sie verändern sich bei jedem Erinnern, je nach der gegenwärtigen Interessenlage und emotionalen Perspektive. Kognitions- und Neurowissenschaft…

-  Schon gut, Oma, schon gut, ich kenne…

-  Nenn mich nicht Oma, und nimm endlich eine Sarah- Bernhardt-Makrone, du Schlingel, oder wie man heute wohl sagt, du Wixer.

Linus schüttelte leicht den Kopf, stemmte sich auf den gepolsterten Armlehnen des Clubsessels in die Höhe, hechtete mit den Füßen voran und landete genau vor der Platte. Mit der Kuchenzange hob er das konische Schokotörtchen auf die Serviette auf seiner Hand und glitt zurück in den Sessel.

- Du misstraust also deiner Erinnerung, Oma, und willst deswegen nichts erzählen, mich an deiner Weisheit nicht teilhaben lassen?

Er neigte den Kopf und biss dreiviertel des Törtchens weg.

Wohlwollend schaute sie zu, wie er kaute und schluckte und das letzte Stück mit dem Ouzo-verfeinerten Mokka herunterspülte. Sie nahm auch einen Schluck.

- So schlicht ist es nicht, mein Junge. Ich misstraue nicht nur aus guten Gründen meiner Erinnerung, sondern dem Wissen an sich.

Ihre Hand streifte kurz die saphirbesetzte Eulenbrosche auf ihrem Revers.

-  Ich hatte schon immer das Gefühl, nur so zu tun, als wüsste ich etwas. Dabei wusste ich immer, es konnte alles auch ganz anders sein, anders als ich es aus meinem Erleben erinnerte und auch anders als das, was man mir beigebracht hatte.

Sie räusperte sich und fuhr fort:

- Bekanntlich wurden mindestens fünf Nobelpreise für Erkenntnisse vergeben, die später widerlegt wurden. Nobelpreise!

Linus richtete sich kerzengerade auf.

-  Omimi, schau mich an, denkst du, die Erde ist eine Scheibe?

Sie zog eine Braue hoch.

-  Das habe ich jetzt überhört, du selbstgefälliger Aluhut-Heini.

Weißt du, was die letzten Worte John F. Kennedys waren, hm?

Linus zuckte die Schultern.

-  Sie fuhren durch die jubelnde Menge und die First Lady von Texas meinte, er könne wohl nicht sagen, dass Dallas ihn nicht liebe. Kennedy antwortete: Das ist offensichtlich. Dann wurde er erschossen.

Sie seufzte und blickte durch die offenen Flügeltüren hinaus in den Park, wo um diese Stunde das Sonnenlicht wie Gold auf dem Teich lag.

-  Alles, was ich sagen will, meine ganze Weisheit, voilà: sei nie zu sicher, bleib wach in jedem Moment!

Linus´ Kopf sank zur Seite, die Augen geschlossen, ein leises Schnarchen ertönte.


Exitus, die nächste Station
Fiktion und Fakten zu Alter und Tod

Das wahre Leben schien immer nur hinter dem Horizont. Sie hasteten von Station zu Station. Wenn erst die Schule geschafft ist, ein Job gefunden, eine Wohnung, eine Familie gegründet, wenn die Kinder erst groß sind, wenn ich nicht mehr arbeiten muss, wenn wenn, wenn …

'Wie viele Menschen wissen, dass sie leben?'

Klangstrahler Projekt, Sinnestäuschung


Dann kam das runzlige Viertel. Das letzte Stück vor der letzten Station, und zum ersten Mal hatte es niemand mehr eilig.

Der erste Kaiser von China starb ja angeblich an Quecksilber- Pillen, die er einnahm, um unsterblich zu werden.

Unsterblichkeit, ja!

In Wirklichkeit sehe ich ihn manchmal in der Zimmerecke sitzen, ein Klappergestell, ohne Sense, nur so, ohne alles hockt er da, reglos wie eine Echse, fleischlos, der Schädel wie müde geneigt. Ich ignoriere ihn, stehe auf aus dem warmen Bett, trete ans Fenster, lasse das Rollo hochflippen und schaue hinunter auf den Verkehr. Da springt er mich an, von hinten, springt mit einem einzigen Satz, klammert sich um mich, presst mir die Luft aus den Lungen, bricht mir beinah die Rippen und quetscht das galoppierende Herz. Und obwohl sich alles sträubt in mir gegen die Rückkehr ins Licht, unterdrücke ich den Widerstand, mache mich schlapp, entgleite seinem Griff und schon fliegt er trotz seines Knochenkörpers durch die geschlossene Scheibe und hockt sich woanders bei jemand anderem in eine Ecke.


Dann wieder phantasiere ich mir ein schnelles, spukhaftes Ende in schöner Umgebung. Mit dem Porsche ungebremst in den Tod, wie James Dean in Kalifornien, wie Grace Kelly an der Côte d’Azur. Erschlagen von einem Ast  wie der Schriftsteller Ödön von Horváth auf den Champs-Élysées oder von einer Schildkröte aus den Klauen eines Adlers, wie der Dichter Aischylos auf Sizilien. Erschossen wie John Lennon am Central Park in New York. Auch mal weniger spektakulär, wie zum Beispiel die Queen, alt, aber stark bis mittags und am Nachmittag friedlich entschlafen.

Um jung zu sterben wie Jimi Hendrix, Amy Winehouse und all die anderen, ist es ja leider/zum Glück schon zu spät. Also wäre das friedliche Entschlafen bei guter Gesundheit wohl doch die schönste Lösung.

Nichts will ich wissen vom Pflegebett, höhenverstellbar, mit Galgen und Haltetriangel, vom benommenen Kopf auf dem Kissen und gewindeltem Unterleib unter der Decke. Von Wortfindungsschwächen und schlechtem Geruch, Leere und Schmerz. Drängen sich solche Bilder auf, will ich nur weg, weit weg, aus dem Bett, aus dem Haus, aus dem Körper. Soll er doch springen, der Knochenmann, soll er doch.


Ungläubig bin ich, doch lege die Hand mit gespreizten Fingern vor das Gesicht und sage mir selbst:

Ego te absolvo und du brauchst auch nicht hundert Ave Marias zu beten, aber du kannst, wenn du willst.

Dann zünde ich eine Kerze an, denn im leeren Ritual sehe ich die reinste Form des Kontakts mit dem Transzendenten.

Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe.

Hätten Ludwig Wittgensteins letzte Worte auch die von Jeanne Louise Calment sein können?  

Jeanne Louise Calment

 (* 21. Februar 1875 in Arles, Frankreich; † 4. August 1997 ebenda) … hält … den Rekord des höchsten erreichten Lebensalters eines Menschen. Sie war der erste Mensch, der erwiesenermaßen sein 116. sowie die jeweils darauf folgenden Lebensjahre bis einschließlich des 122. vollendete.

Jeanne heiratete … ein(en) vermögender Ladenbesitzer… (er)…versetzte (sie) in die Lage, nie viel arbeiten zu müssen und Hobbys wie dem Tennissport, Radfahren, Schwimmen, Rollschuhlaufen, Klavierspielen und der Opernkunst nachgehen zu können.

… Calment fing mit 85 das Fechten an und fuhr noch als 100-Jährige Fahrrad. Bis zum Alter von 110 lebte sie alleine, erst 1985 zog sie in ein Altersheim.

(Sie) war seit 1896 Raucherin und versuchte erst 1992, mit 117 Jahren, das Rauchen aufzugeben, kehrte jedoch ein Jahr später wieder zum Rauchen zurück…  Sie selbst führte ihr Alter auf den Genuss von Olivenöl, Knoblauch, Gemüse und Portwein zurück.

Jedem das Recht auf Pietät!
Ein Krimifragment

-  Das käme inklusive Kiefernsarg, (einfache Ausführung), Überführung, Krematorium, Urne (schlicht) und Beisetzungsstätte auf unserer Sonderfläche am Nordflügel des städtischen Friedhofs auf genau 3896 Euro und 46 Cent und, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf, das Rauchen ist hier nicht gestattet.

Mit wässrigem Blick schaut Heinfeld, der Bestatter im dunklen Anzug, durch den schwitzenden Fremden hindurch.

-  Scheiße, Scheiße,

brüllt Ziggi, saugt den letzten Zug aus dem Stummel zwischen Daumen und Zeigefinger, wirft die Kippe auf die Marmorfliesen der Empfangshalle des Instituts FRIEDEN und dreht so hektisch mit der Schuhspitze darauf herum, als fürchtete er, sie würde wiederauferstehen.  

-  Das Geld habe ich nicht. Und kriege ich so schnell auch nicht bei.

Bei jeder Silbe entweicht ihm Rauch aus Mund und Nase, den Rest hustet er Heinfeld in die professionelle Kondolenzmine und erklärt:

-  Das werden wir anders lösen müssen. Und ich sage Ihnen auch wie.

Die steingrauen Augen des 59 jährigen Juniorchef des Instituts FRIEDEN starren auf den zerquetschten Stummel und wieder erscheint ihm die Szene, wie sein Sohn mit derselben aggressiven Sorgfalt seine Kippe ausdrückt, allerdings nicht auf dem Boden, sondern auf seinem Unterarm. Vor zwei Jahren war das, am offenen Grab seiner Mutter. Noch heute trägt der störrische Hauptschüler, ansonsten ein Abziehbild seines Vaters, eine krumplige, kraterförmige Narbe direkt über dem Handgelenk. Das schweigende Unverständnis zwischen den beiden Heinfelds ist seitdem endgültig besiegelt. Und auch von den Töchtern hört der Witwer schon lange kaum mehr als höllische Dissonanzen aus dem Keller, wenn sie mit ihrer divers geschlechtlichen Gothicband die Totenruhe erschüttern.

Heinfeld zwingt sich, die trüben Gedanken beiseite zu schieben. Er blickt vom Stummel zu Ziggi und fragt trotz allem ohne sichtbare Regung.

-  Wie meinen Sie das?

Ziggi zerrt gegen den Widerstand seiner Gesäßtasche eine angeranzte Geldbörse zutage, ratscht den Klettverschluss auf, entnimmt ein dünnes Bündel Scheine und klatscht es auf den polierten Tresen.

-  Das hab ich, das gebe ich Ihnen und Sie machen das!

Routiniert überschlägt der Bestatter die Summe. Das sind höchstens 300 Euro. Wieso ist ausgerechnet jetzt der Alte nicht im Laden? Jetzt könnte er den Chef mal raushängen und zeigen, wo der Hammer…, sich nicht mehr waschen, auch schon mal in die Hosen scheißen, dabei stur und autoritär an seinem Posten kleben, das kann er, der Seniorchef, aber wenn’s drauf ankommt… Heinfeld holt Luft, aber Ziggi kommt ihm zuvor.

-  Und Sie machen das anständig, verstanden! Mein Freund hier -

Er tätschelt die lehmverkrusteten Hosenbeine der Leiche, die aus dem Deckenbündel neben den Geldscheinen herausragen.

-  Mein Freund wird ordentlich beigesetzt, ist das klar! Und glauben Sie nicht, ich komme nicht dahinter, wenn das nicht 1A erledigt wird. Wie es sich gehört, würdevoll und alles. Ich komme wieder. Und dann gnade Ihnen Gott.

Damit dreht er sich um, läuft breitbeinig zu der Glastür mit dem eingeschliffenen FRIEDEN-Logo, ergreift die mächtige  Messinglorbeer-Klinke, zerrt daran und verschwindet. Bis Heinfeld aus der Starre erwacht und mit steifen Schritten hinter ihm her eilt, ist der verdreckte, graue Ford schon rumpelnd um die Ecke in die Bergheimer Straße gebogen. Verdammt, was jetzt?


Ziggi kurvt stadtauswärts, auf Umwegen Richtung Schriesheim zu dem hinter hohen Hecken versteckten Feld, wo ausgerechnet in der vergangenen Nacht ein mächtiges Gewitter niederkam. Die Wassermassen, der markerschütternde Donner und vor allem die Blitze erschwerten alles. Sollte ihnen tatsächlich jemand gefolgt sein, hätte er sie im flackernden Licht leicht ausmachen können. Wie abgesprochen warfen sich Ziggi und Stadler ächzend, beide immerhin über siebzig, auf die aufgebrochenen Erdschollen, umklammerten die Säcke mit dem erbeuteten Geld. In Sekunden saugte sich ihre Kleidung voll. Ziggi sprang auf, rannte, so gut es ging, voraus zur Hütte. Mit jedem Schritt wurden die Lehmklumpen an seinen Schuhen dicker. An der Tür schlug ihm der Geruch von trockenem Stroh entgegen. Er warf sich auf einen der Ballen, stopfte sich den verschmierten Sack in den Rücken, verschränkte die Hände über dem Kopf und verschnaufte. Mann, wo blieb Stadler? Im Dunkeln draußen war nichts zu erkennen. Das Gewitter entfernte sich. Ziggi legte sich wieder hin. Nur kurz ausruhen, sagte er sich und schloss die Augen.

Im Morgengrauen erwachte er ohne den Sack unter dem Kopf. Er fand Stadler im Graben, tot, auch sein Sack war weg.


Und was kommt danach?
Wunderglaube und wahre Wunder

Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht.

Ist er, bin ich nicht.  

Hat Epikur, der Hedonist, wieder mal recht? Oder kommt danach doch das Überqueren des Styx in den freudlosen Hades? Walhalla mit Bier und Met? Höllenqual oder ewiges Leben? Paradies mit 72 Jungfrauen oder (für Frauen) mit nur einem Mann? Wiedergeburt …?

Alles vorstellbar, alles schön ausgemalt, nur das eine nicht, dass wir diese und nur diese vierzig, siebzig oder hundert Jahre haben, einmalig: Und nichts davor und danach.

Jeder Moment: ein Wunder.


Und übrigens - gilt auch für Boomer:

Die einzige Möglichkeit, etwas vom Leben zu haben, ist, sich mit aller Macht hineinzustürzen.                                                                     

Angelina Jolie

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