Am Badeteich der postmodernen Identitätspolitik

Gerade als ich mich über meine ersten literarischen Veröffentlichungen freute und damit beginnen wollte meine universitäre Abschlussarbeit zu verfassen, also mich als wissenschaftlich denkendes Subjekt zu installieren, war die Postmoderne vollends im deutschsprachigen Raum angekommen. Dieselbe, die das Subjekt - gleichviel ob literarisch oder wissenschaftlich - für tot erklärte. Es war Ende der 90er-Jahre und mit einem Mal gab es keine gesicherte Position mehr, von der aus man - und so auch ich - hätte schreiben können.
Das war betrauernswert. Für mich insbesondere, fand ich, die ich mich doch sehr bemühte, ich zu werden. Grund genug, mich mit dieser Postmoderne, die als Verfasserin der Todesanzeige des Subjekts zeichnete, auseinanderzusetzen. Der Zweifel am eigenen Blickwinkel schien mir nunmehr die einzig verlässliche Position, von der aus man - also ich - noch sprechen konnte. Eben gerade nicht als ein diffuses Man, sondern als ich - all die Einschränkungen in Kauf nehmend, die das bedeuten mochte.
Es gibt sicherlich günstigere Vorzeichen, um ein akademisches oder literarisches Leben zu beginnen. Aber auch weitaus tragischere, dessen war ich mir - insoweit ich immer noch beharrlich ich sagte - sicher.

Aus der Not eine Tugend zu machen, darin war ich zu dieser Zeit bereits überaus geübt, denn ich hatte die Jahre zuvor zwischen den Stühlen zweier Fakultäten der Universität zugebracht. Und zwischen Stühlen ist es bekanntlich zuweilen recht unbequem. Sogar in Wien, wo diese Stühle von Thonet stammen mögen und daher selbst die Zwischenräume hübsch anzusehen sind.
Ich mochte dieses unscharf Abgegrenzte. Teils im hoffnungslos naiven Glauben an den Dialog zwischen den Wissenschaften, teils aus grundlosem Optimismus meine akademische Zukunft betreffend.
In dieser Geschichte über das Ich, das ich angeblich im Begriff war zu werden, ist belegbar, dass ich vermittels der verpflichtenden Vorlesung zur Wissenschaftstheorie in ein Zwischenreich geraten und heillos in die Philosophie abgeglitten war. Dergleichen passiert, wenn ein junger Geist nach Wissen dürstet.
Von den Naturwissenschaften desertiert, so gab ich auf Nachfrage gerne an, denn ich fühlte mich offenbar von Gewissensbissen geplagt, was die Fahnentreue zu den Biowissenschaften betraf. Auch bekam ich vielfach zu spüren, dass mein nunmehr geteiltes Interesse keine einhellige Zustimmung erfuhr. Ich wurde aufgefordert, mich für die eine oder die andere Disziplin zu entscheiden. Von beiden Seiten.
An der naturwissenschaftlichen Fakultät wurde bald ruchbar, dass ich mir das Zweifeln an der Genese wissenschaftlicher Tatsachen sehr zu Herzen nahm, und dieses nicht zuletzt auf meine eigene empirische Arbeit anwandte. Versuchsanordnungen wurden mir somit zunehmend unmöglich. Ich war zu sehr damit beschäftigt, sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Zugleich war ich an vielen Punkten nicht einverstanden mit dem angeblich vom Materiellen weitgehend unbeeindruckten Gestus der Philosophie.
Um das vorwegzunehmen: Ich machte keine Karriere, weder in der einen noch in der anderen Fachrichtung. Niemanden wunderte das, mich selbst am wenigsten. Die harten Naturwissenschaften waren schließlich nie mein bevorzugtes Badegewässer gewesen. An den felsigen Begrenzungen hatte ich mir die Badekleidung bald wundgescheuert, sowie ich sie zu ernst nahm - und sie allzu ernst zu nehmen, dazu schienen diese Begrenzungen unbedingt angetan.
Umgekehrt reichte mir das Wasser der Philosophie oft nur bis zu den Oberschenkeln. Aber leider von oben herab, was ebenso wenig hilfreich war, wenn man - also ich - ein erfrischendes Bad nehmen wollte und nicht gleich ertrinken.

Was tun? Das literarische Schreiben, das mir nicht zuletzt erlaubte, beide Haltungen gegeneinander abzuwägen, ohne mich als Subjekt selbst von der Waagschale zu nehmen, war schon immer mehr ein Badeteich nach meinem Geschmack gewesen. Also tauchte ich frohgemut ein. (Ich hatte freilich noch keine Ahnung, dass es gar kein Teich, sondern mitunter ein Kochtopf war, unter dem ein Feuer gloste, Fleischfressende rundherum im Kreis tanzend.)
Aber war das nicht schön: Poetologisch betrachtet, durfte ich Viele sein, das war erlaubt und nunmehr sogar erwünscht. Die Postmoderne warf sich, als sie in den 1990ern ihre Wirkmacht entfaltete, immerhin auch gegen allerlei Festschreibungen auf. Mithin stand keine vermeintliche Objektivität, sondern endlich das Subjekt im Mittelpunkt - wenn auch durch seinen Tod. Welch eine Bestätigung! Und welch Verhängnis zugleich.
1991 war Judith Butlers Unbehagen der Geschlechter erschienen, welches Identität, am Beispiel des Geschlechts, verhandelbar machte. Eine neue Ära des Feminismus‘ war eingeläutet. Ein Aufseufzen schien durch alle Reihen zu gehen. Durch jene derer, die sich gegen diese Ansicht verwehrten gleichviel, wie durch die Reihen derer, die euphorisiert sozial konstruiertes, oder sonst ein Geschlecht performten.
Geklärt war damit freilich noch längst nicht, welche Kopfbedeckung zum Begräbnis des Subjekts eigentlich zu tragen wäre. Viele feministische TheoretikerInnen sahen in der postmodernen Identitätspolitik eine so erlesen verzierte wie wohlschmeckende Praline. Andere nahmen sie als perfiden Köder wahr, der lediglich zu kurzfristigem Genuss verführen wollte, aber letztendlich die Position der Frau vernichtend schwächte. Es gab nun also mindestens zwei Lager. Die einen warfen den anderen vor, besonders gut im Verschlucken oder Verdrängen zu sein. Und selbstverständlich wähnte sich jede im Recht.
Seyla Benhabib stellte angesichts des prekären Bündnisses von Feminismus und Postmoderne zurecht die Frage, „wie denn das Projekt weiblicher Emanzipation ohne ... der Ichidentität überhaupt denkbar wäre.“ Und Nancy Fraser legte in ihrer legendären Entgegnung Falsche Gegensätze (1991) den Fokus auf die Bewahrung des kritischen Subjekts: „So ist prinzipiell durch nichts ausgeschlossen, daß Subjekte sowohl kulturell konstruiert als auch kritikfähig sind.“ Wie gut, das zu hören, oder?
Ich gab mein Bestes, um beide Sichtweisen gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen. Aber es liegt in der Natur der Gleichberechtigung, dass sie nie vollständig gelingen kann. Natürlich nahmen mich manche Argumentationslinien mehr für sich ein als andere. Und das sicher nicht, weil sie die einfacheren oder geradlinigeren waren.
Die Zeiten waren danach, Identität zugleich als Konstrukt, wie auch als konstituierend für die notwendige Relativierung der aufklärerischen Weltsicht, in den Mittelpunkt zu rücken. Die Zeiger standen auf Komplexität.

Aber ach. Auf eine vielleicht ähnliche Weise wie die Theorie nicht behauptet von geschlechtlicher Identität zu abstrahieren, behaupte ich an dieser Stelle nicht, von meiner eigenen Identität abzusehen, oder zu verhehlen, wie sehr sie mir dazu dient, auf andere Identitäten zu schließen. Und wenn nur, um mich von ihnen abzugrenzen.
Ich behaupte sogar, dass über Identität nicht gesprochen werden kann, ohne die eigene zur Disposition zu stellen. Abstrakte Betrachtungen sind bei diesem Thema nicht wasserfest genug, wie ich finde. Wir müssen über Identität anhand von Biografischem sprechen. Ziemlich sicher habe ich das bis hierin bereits getan, sofern ich nicht an jenen Stellen zur Fiktion gegriffen habe, die mir vermeintlich entweder zu intim oder aber zu abschweifend erschienen sind, als dass sie meine Identität als Erzählende hätte stiften können.
Nun verhält es sich mit der eigenen Lebensgeschichte aber so, dass wir, wie Seyla Benhabib sagt, nicht bloß ihre Verlängerung sind, sondern uns vielmehr „zugleich in der Position des Autors und des Darstellers befinden.“ (Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis, 1991). Man - also ich - könnte auch sagen die Fiktion mag ein Kunstgriff sein, ein Ausweg aber ist sie nicht. Wir bleiben doch notwendig dieser Vision verpflichtet, die von einem auf unsere Bedürfnisse zugeschnittenen Badeteich spricht, und einem ihn umgebenden Heimatboden.
Insofern schreibe ich, darin eintauchend, jeweils lediglich probehalber über mich. Ganz so, als wäre ich die Summe dessen, was ich geworden bin, das Ergebnis einer Biografie, die unabänderlich niedergeschrieben stünde. Wohlwissend, dass sie vorgeschoben ist und ich ziemlich sicher eine andere bin, als es mir selbst erscheint. Nicht mehr von diesem vagen Man zu sprechen, ist bloß ein Anfang.
Was kann vielversprechender sein als ein zugegebenes Flimmern des Selbst, das, kaum erfunden, schon überholt ist? Ich kann mit dieser gewissen Fluidität der Umgebung leben, denn sie lässt mir genügend Freiraum, um die Schwimmzüge in meinem Tempo zu gestalten. Einen Atemzug lang weiß ich dann je, wo ich hingehöre.

Ich erzähle also mit einer gewissen Verneigung vor dem Widerspruch der autobiografischen Erzählposition. Ich erzähle, weil ich der festen Überzeugung bin, dass es keine Geschichte gibt. Mit einer postmodernen Selbstverständlichkeit meine ich das Konzept Geschichte leichthin diffamieren zu können, ohne unbedingt selbst Schaden davonzutragen. Letztlich ist die Geschichte doch weit verletzlicher als die Identität es je sein könnte.
Slavoj Zizek sagt in Die Tücke des Subjekts an einer Stelle - und ich reiße dies freimütig aus seinem Zusammenhang - dass diejenige Erzählung gewinne, die der Wirklichkeit am adäquatesten sei. „Das Verhältnis“, schreibt er, „ist zirkulär und selbstbezüglich; die Erzählung bestimmt schon vorher, was wir als 'Wirklichkeit' erfahren werden.“ Selbstverständlich mag ich die Art und Weise wie Wirklichkeit hier von ihm verhandelt wird. Als etwas mitnichten Gesetztes.
Meine Zuneigung zur Absage an eine machtvolle Wirklichkeit zeigt zugleich, wie gründlich die postmoderne philosophische Sozialisierung mich durchdrungen hat. Bedeutungen als je nach Lichteinfall changierend zu begreifen, ist mir wie ein Geruch von Heimaterde. Heimaterde von einem Ort, an dem ich noch niemals war, und den ich mir gerade deshalb bestens vorstellen kann.

Meine Identität trotz oder wegen der Postmoderne entwickelnd, rieb ich mich als junge Erwachsene an der Welt. Als Studentin war ich die, die in Vorlesungen ihren Hund dabeihatte. Am zoologischen Institut fiel das nicht weiter auf, denn dort gab es Kommilitoninnen, die Hausschweine an der Leine führten. Aber im sogenannten Neuen Institutsgebäude, wo die Philosophie etwas abseits der Ringstraße logierte, war ich, mit einer großen weißen Hündin an meiner Seite, ungewollt exaltiert. Entgegen dessen, was der Name suggeriert, war dieses Institutsgebäude damals schon dermaßen in die Jahre gekommen, dass eines Tages ein Teil der Hörsaaldecke, die wir dort Plafond nennen - als wäre sie der Untergrund zu etwas Höherem - während einer Vorlesung herunterbrach. Mich schreckte das nicht. Ich war hochmotiviert an vielen interessanten Lehrveranstaltungen teilzunehmen, und brachte meiner Hündin das Fahren im Paternoster bei, der dort zwischen den Stockwerken verkehrte - oder besser gesagt brachte sie mir bei, sie im rechten Moment in den fortlaufend fahrenden Aufzug hinein- und wieder hinauszutragen.
Auf diese Weise, den geisteswissenschaftlichen Studieninhalten zunehmend mehr verbunden als meinem ursprünglichen Fach und seiner zirkulär sich begründenden Empirie, studierte ich Philosophie, ohne die Absicht, die Biologie völlig aufgeben zu wollen. Jedenfalls nicht das Zwischenmenschliche daran, das ich in der Verhaltensforschung mit Tieren fand. Ich störte mich kaum an diesem Widerspruch. Die wenigsten Verhaltensforscher:innen tun das, bewegen sie sich doch in einem Klima, in dem es als durchaus legitim empfunden wird Tierisches auf Menschliches herunterzubrechen - was in Wahrheit keineswegs harmloser ist als das Gegenteil zu tun. Auch dies ist ein Teich, in dem es sich wohlig baden lässt.
Viel später, bereits in Deutschland, absolvierte ich dann eine psychotherapeutische Ausbildung, die mich befähigte mit menschlichem Verhalten zu arbeiten. Ich erwähne das nur deshalb, weil es im Verdacht steht, mir zu erlauben trotz allen verhaltensforscherischen und postmodernen Gedankenguts als intaktes Subjekt hinter diesem Text zu stehen, und nicht als sprichwörtliches Kind, das mit dem Bade ausgeschüttet wurde.
Bei den meisten Menschen werden die familiären Verstrickungen oder die amourösen Verirrungen angeführt, wenn es darum geht ihre Verfassung zu begründen, bei mir sind wohl eher die ideologischen Zweifel ursächlich für die Vernarbungen meiner Identität. Einst beschrittene Nebenpfade, ohne die ich mir selbst nicht vorstellbar bin.
Ich besuchte an der geisteswissenschaftlichen Fakultät unter anderem die Vorlesungen von Ingvild Birkhan. Ich schäme mich nicht dafür zu sagen, dass ich auf den ersten Blick beeindruckt war von der bemerkenswerten Haartracht dieser Philosophin. Eine Frisur, die es an sich hatte, nichts von ihrer kunstvollen Machart preiszugeben. Dazu hatte diese Frau einen makellos gespitzten Intellekt, mit dem ihr wiederum genau das Gegenteil gelang: Ihre Denkungsart großzügig offenzulegen und ihr Wissen mit uns zu teilen.
An einem Punkt, an dem wir Studierende uns am aktuellen politischen Geschehen aufgerieben hatten und sie uns mit auf den Weg geben wollte, worin die Chance - und zwar unsere einzige - bestünde, sprach sie von radikaler Individualität.
Ich war entsetzt. Radikale Individualität? Darf man das denn? Soll man das denn? Und falls ja, inwieweit konnte selbst ich dieses Man sein, das ich hier willfährig eingesetzt hatte?
Da ich diese Professorin für weit gescheiter und weitsichtiger hielt als mich selbst, probierte ich ihre Sichtweise an. Ich bin nicht sicher, ob mir das bis zur letzten Konsequenz gelang, oder gar, ob das überhaupt erstrebenswert ist, aber ich denke bis heute oft an ihre Äußerung. Radikale Individualität, das klang wie eine viel zu spät erfolgte Erlaubnis zum Spielen im Garten Eden. (Sämtliche darin befindliche Gewässer selbstredend eingeschlossen.) Konnte das der ersehnte Heimatboden sein, dessen Fährte ich zuvor aufgenommen hatte?
Freilich ist es nicht möglich, selbst mir nicht, diesen bestimmten Garten unkommentiert zu erwähnen. Seit wir aus diesem Eden vertrieben und einander und unserer selbst gewahr geworden sind, hat uns Menschen der merkwürdige Gedanke der Sühne im Griff. Nicht erst neuerdings kommt er in Gestalt des Diktats der individuellen Selbstverbesserung daher, das uns vermeintlich ständig zwingt über uns hinauszuwachsen. (Welch eigenartiges Bild. In wen hinein sollten wir denn bitte wachsen, wenn nicht im Rahmen unserer Körpergrenzen?)

Indessen schwebt doch bei allem eine Frage über diesen mit sich selbst notorisch unzufriedenen Subjekten, seien sie tot, lebendig, oder an die lebenserhaltenden Maßnahmen der Religion gebunden: Kann ein Subjekt denn dauerhaft mit sich selbst ident sein? Gibt es so etwas wie eine stabile Ichidentität überhaupt? Und wenn ja, woraus wäre sie beschaffen? Und was die meisten mutmaßlich noch viel brennender interessiert: Wie sehr kann man sich auf sie berufen, so man nicht willens ist, sich zu ändern? Taumeln wir nicht alle zu Recht, weil es am Ende gar keine verlässliche Identität gibt, auf die wir uns berufen könnten?
Im psychotherapeutischen Zusammenhang - und jetzt komme ich doch darauf zurück - scheint die Vorstellung einer unabänderlichen Persönlichkeit jedenfalls nicht sonderlich hilfreich. Auf einem So-bin-ich-eben beharrend, lohnt es sich nicht, in Therapiestunden zu investieren. Hier scheint vielmehr die Vergegenwärtigung der Konstruiertheit jeglicher Identität ein Heilsversprechen. In Wahrheit - aus einer selbstkritischen Nähe betrachtet - können wir nämlich alle auch ganz anders.
Zumindest die humanistischen Therapierichtungen haben für sich entdeckt, dass wir meist nicht sind, was wir denken - und laden ein, damit zu arbeiten. Es ist eine Befreiung, nicht auf sein Selbst festgeschrieben zu sein, wenn es darum geht schlechte Angewohnheiten wohlwollend zu beleuchten. Und ganz offensichtlich ist genau das eine probate Haltung, um sie hinter sich zu lassen. Mit ein bisschen Ehrgeiz reicht dies über den Anspruch hinaus, keine Raucherin oder kein Nagelbeißer mehr sein zu müssen.
Es passt scheinbar nicht in die Geschichte meiner postmodern verfassten Identität - meiner Eitelkeit passte es aber durchaus - dass ich schließlich meine Studien an beiden Fakultäten abschloss. Ich tat es allerdings ein bisschen so, wie man den Schlüssel in einem Türschloss vorsorglich zweimal umdreht, geflissentlich übersehend, dass die Tür selbst aus Karton beschaffen ist. Selbst von der Verhaltensforschung verabschiedete ich mich mehr oder weniger ordnungsgemäß mit einer Laborarbeit zum Lernverhalten meiner Affen.
Danach wählte ich einen Weg, der es mir erlaubte, meiner Individualität in blinder Treue verbunden zu bleiben, ohne sie festzuschreiben: Ich zog ins französischsprachige Ausland, wo ich plante, kaum noch von der Fließrichtung meiner Muttersprache behelligt zu werden, und daher möglicherweise eine andere sein konnte. Eine, die ihre geisteswissenschaftliche Abschlussarbeit verfasste und sich selbst über ihre Sprache literarisch neu erfand.
Unter dem Vorwand der Sprache des Fetischismus’ als Ästhetik begann ich eine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse aus postmoderner Perspektive. Es war durchaus zeitgemäß die Philosophie kritisch auf die psychoanalytische Theorie anzuwenden. Auch war es üblich, das nebenher zu tun, denn Förderung gab es für derlei Arbeit nicht. Nach zwei Jahren glückte es mir eine Diplomarbeit abzugeben, die mein Betreuer nach Durchsicht eine Dissertation nannte, was mir freilich schmeichelte. Doch ich hatte mich bis dahin nicht nur am gewählten Thema gründlich abgearbeitet, sondern auch am unentgeltlichen wissenschaftlichen Arbeiten neben einer fachfremden mehrsprachigen Lohnarbeit. Ich konnte nicht mehr. Also ließ ich nach meinem Abschluss die hehre Wissenschaft zugunsten des weiteren Broterwerbs hintanstehen.
Nach meinen ersten Jahren als nicht-wissenschaftlich arbeitende Akademikerin geriet ich ins Hamsterrad der Geschlechterrollen. Mein notorisches Streben nach Individualität, gepaart mit meinem Frausein, ließ mich versuchen Mutterschaft und ein vorweisbares Berufsleben zu vereinbaren. Das Ganze ging nicht gut aus. Für mein berufliches Fortkommen nicht. Für mein Privatleben schon. Heute bezeichne ich meine werktägliche Beschäftigung kokett als Brotberuf. Mein Herzblut gilt meinen Kindern und dem Schreiben, was natürlich ein Klischee ist, das vielen tradierten Erzählungen angehört. Ein lebbares Klischee. Zuweilen kommt man dabei allerdings nur noch selten mit Wildwasser in Berührung. Jedenfalls nicht, solange die Kinder noch klein sind.
Angesichts meiner vorhergehenden Befassung mit Feminismus mag dieser Lebensweg zynisch erscheinen. Ebenso zynisch wie die Tatsache, dass ich meinen persönlichen Zugang zur Gleichstellung bis hierhin unterschlagen und so getan habe, als sei der Wunsch danach ein universeller. (Was er leider nicht ist, wie das I can't believe I still have to fight against this shit protestierender Frauen heute bezeugt.) Und das obgleich, oder weil es vermutlich in Wahrheit keinen anderen als einen von persönlichen Motiven durchdrungenen Zugang gibt.

Ich wurde nicht als Feministin geboren. Als Studentin der Naturwissenschaften fand ich Bestrebungen zur Gleichstellung der Geschlechter zunächst bestenfalls überzogen, wenn nicht gänzlich obsolet. Frauen konnten schließlich mittlerweile alles machen, oder? Meine Affenweibchen hatten sich jedenfalls nie über die herrschende Ordnung beklagt. Ich wollte nicht in einer Reihe mit Klageführenden stehen. Ich empfand mich selbst als ausreichend emanzipiert, um mein Leben selbstbestimmt zu gestalten und dachte nicht, dass hier gesamtgesellschaftlich Handlungsbedarf bestand.
Später änderte ich meine Meinung fundamental. Ich begann zu hinterfragen, warum ich als kleines Mädchen angesichts meiner Berufswünsche unversehens gedacht hatte, ich würde schon noch ein richtiger Mensch aka Mann werden, um all das, was mir an Lebensentwürfen vorschwebte, in die Tat umsetzen zu können. Mein Umdenken in Sachen Gleichstellung setzte die peinliche Entdeckung voraus, dass eine selbstbestimmte Identität für Frauen immer noch nicht ganz so selbstverständlich ist wie für Männer.
Es verlangte mir eine gewisse Sensibilisierung ab, für das was ich gerne als Gemeinsinn anspreche. Etwas, das über meine persönlichen Anliegen hinausgeht. Denn jegliche feministische Bestrebung ist notwendiger Weise ein nicht lediglich individuelles Anliegen, sondern eines, das zugleich Verbundenheit voraussetzt und ein Bündnis verlangt. Heute würde ich sagen, dass es Anliegen eines jeden weiblichen Lebenslaufs sein muss, sich an irgendeinem Punkt damit zu befassen.
Herta Nagl war eine der Ersten, die ich dazu gehört hatte. Sie fasst feministische Philosophie als „Philosophieren am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau.“ Das beeindruckte mich. Ihr Beharren auf der Umständlichkeit der Formulierung ebenso wie der wohldosierte Inhalt, welcher dieser Befassung ausreichend Spielraum einräumt. Ich borge mir ihre Wendung manchmal aus, wenn ich meine Zuneigung zu einem Thema abbilden will: Am Leitfaden des Interesses an... finde ich eine sehr freie und dabei exakte Beschreibung für die Hinwendung zu einer Sache.
Meine Herkunftsfamilie hatte mich dazu erzogen, mich als Frau bloß nicht von den Zuwendungen eines Mannes abhängig zu machen. Ich müsse meinen Lebensunterhalt selbst verdienen, hieß es, keinesfalls in die Hausfrauenfalle tappen. Ich wusste nicht, dass meine Großmutter, die dieses Lebensmodell mit Vorliebe propagierte, zwar zeitlebens berufstätig gewesen war, aber niemals so Profanes wie Lebenshaltungskosten von ihrem Gehalt bezahlt, sondern dies mit großer Selbstverständlichkeit ihrem Mann überlassen hatte - ohne jegliches Bewusstsein für diese Doppelmoral. Leider verstand ich das erst, als ich bereits recht verzweifelt über meinen eigenen Lebenslauf als arbeitende Mutter gebeugt war.
Im offenen Meer drohte ich das Ufer aus dem Blick zu verlieren. Und konnte mir mein mangelndes Talent zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht erklären.
Doch nicht wir Frauen, die wir immer noch fälschlicherweise wie eine politische Minderheit behandelt werden, sollten diesen Erklärungsnotstand haben. Es beschämt mich, dass in meinem Heimatland zwanzig Jahre nach dem ersten österreichischen Frauenvolksbegehren, der zweite Anlauf in dem es 2018 einmal mehr um Gleichstellungsforderungen ging, vergleichsweise wenig Zuspruch erhielt. Im Vergleich nämlich nicht nur zu den Zahlen von 1997, sondern auch zu denen des fast zeitgleich in der Alpenrepublik stattfindenden Don’t smoke-Volksbegehrens, welches das generelle Rauchverbot in der Gastronomie zurückforderte. Dieses erhielt tatsächlich fast doppelt so viele Stimmen wie das Frauenvolksbegehren.
Den meisten Österreicher:innen schien es wichtiger, darüber abzustimmen wo geraucht werden darf, als darüber, welche Möglichkeiten die satte Hälfte der Bevölkerung zur Verwirklichung ihrer Lebensziele bekommt. Kurz kam mir der Gedanke, dass auf eine recht vertrackte Weise in meinem Heimatland wohl - ähnlich wie damals an der Universität - ein Teil des Plafonds der eigentlich als Referenz für höhere Ziele hätte dienen sollen, heruntergebrochen war.
Jetzt ist es selbst in Österreich so, dass es zwar mehr Nichtrauchende als Frauen im Land gibt, doch ist das womöglich die falsche Betrachtungsweise. Die Frage ist, so fürchte ich, wie sehr sich Nichtrauchende mit anderen Nichtrauchenden identifizieren, und wie wenig Frauen das doch miteinander tun. Wieder scheint der Gemeinsinn durch sein Fehlen zu glänzen.

An Ichidentität als eine abgeschlossene Persönlichkeit nicht zu glauben, macht die Besinnung auf gemeinschaftliches Handeln nicht unbedingt leichtfälliger. Irisierende Bedeutungen mögen theoretisch fesch durchdacht sein und den Handlungsspielraum vergrößern, Entscheidungen finden sich deshalb aber zunächst nicht leichter. Sollte das die Rache der postmodernen Identitätspolitik sein? Oder besteht sie noch mehr in der komplizierten Verfassung der Identität unserer Heranwachsenden? Und der Herausforderung, welche die notwendige Akzeptanz bedeutet, dafür, dass Identität dieser Tage nicht mehr nur im Flachwasser taucht.
Ich fange jetzt nicht zu guter Letzt von meinem pubertierenden Kind an und dessen Beharren auf dem Trans viel mehr als auf dem Gender. Dem Gender, das es sich als soziales Geschlecht nicht erst selbst erfinden musste und es daher konnte. Nicht davon, wie sehr mich das Gewollte dieser Festschreibung befremdet. Denn es hilft nichts, letztlich können wir nichts als jede:r für sich unsere die eigene Identität entwickeln und - zumindest - darin verbündet sein. Egal welche Erde uns Heimatduft vermuten lässt, egal wie tief das Wasser, egal wie fragil unsere Ichidentität in Wahrheit ist.
Denn ich muss darauf bestehen, dass die Vorstellung ihrer Stabilität eine Utopie ist. Und zwar eine rückwärtsgewandte, weil unser Gehirn nun einmal zeitgerichtet funktioniert, indem es sich um ein Gedächtnis organisiert, das sich aus der Vergangenheit konstituiert. Wir sind, was wir erinnern und nie gänzlich, was wir von uns glauben. Vermeintlich steht es um die Ichidentität so gesehen ähnlich wie um die Österreicher, die laut Alfred Polgar ein Volk sind, „das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt.“ Nichts für Menschen, die festen Boden unter ihren Füssen brauchen. Für Paternoster-Fahrende allerdings möglicherweise eine willkommene Übung im Menschsein.

Es gibt wirklich nicht viel, was uns noch passieren kann, haben wir das Talent zum hoffnungsvollen Zweifeln erst einmal verinnerlicht. Und eine beeindruckend kunstvolle Haartracht kann in der Tat dabei helfen, das weiß ich heute, auch wenn sie mir selten so überzeugend gelingt wie meiner Professorin.
Irgendwie ist es doch tröstlich zu wissen, dass wir alle Krücken benutzen, um unsere vorgebliche Identität aufrechtzuerhalten. Das Schreiben ist mir meine liebste. Kaum etwas ist so identitätsstiftend wie die eigene Sprache. Von kaum etwas anderem kann ich mich so wenig wegdenken, wie von der Art und Weise wie ich meine Gedanken in Worte fasse. Auch wenn man - also ich - über andere, oder anhand von Figuren schreibt, die man – und ganz bestimmt ich - von sich abgrenzt. Oder vielleicht gerade dann.
Jedes Schreiben ist doch eines am Leitfaden des Interesses an der Stiftung der eigenen Identität. Jenseits allen postmodernen Taumels ist mir das Literarische doch die Lieblingskrücke meines Ichs.

Wohl wahr, die Gezeiten sind längst nicht mehr zuverlässig und eigentlich kann ich mich nicht erinnern, wann ich mir zuletzt Zeit genommen habe, sie einfach zu beobachten. Bei genauerer Betrachtung ist mir ohnehin schleierhaft, wie ich mit einem Paternoster an diesen Badestrand der postmodernen Identitäten gelangen konnte. Es muss sich wohl um eine Dachterrasse handeln, oder ein Hologramm. Die Frage, ob dies Heimatboden ist, der rundum trägt, ist längst die falsche. Bestimmt kann ich mich glücklich schätzen, mich nicht um den Zustand eines eventuell darunterliegenden Plafonds sorgen zu müssen.
Wie auch immer beschließe ich zuversichtlich, dem Wasser vor mir zu trauen, und wenn nur als einem, das seine Wellenberge aus der Erfahrung so vieler zuvor mit dem Bade ausgeschütteten Kinder bezieht. Und - womöglich wie ein Kind - freue mich aufs Eintauchen!

Zurück
Zurück

Geisterlügen